Die Erfindung und Entwicklung der Schrift
Ein 5000 Jahre altes Rätsel aus Susa

Die Erfindung und Entwicklung der Schrift, einer der großen Kulturleistungen des Menschen, kann mich immer wieder aufs Neue begeistern! Die bekannteste heute ausgestorbene Schrift, die Keil­schrift, diente über zweieinhalb Jahrtausende hin­weg Babyloniern, Assyrern, Elamitern, Persern und vielen anderen Kulturen zur Aufzeichnung ihrer jeweiligen Sprache. Erfunden wurde sie wohl von den Sumerern, zu deren literarischer Tradition außer den mythischen Erzählungen um den Helden Gilgamesch auch der Bericht über eine große Flutkatastrophe gehörte, die im biblischen Buch Gene­sis ihren Widerhall gefunden hat.

Der Antrieb zur Erfindung der Schrift ist jedoch allem Anschein nach nicht das Bestreben gewesen, Mythen oder religiöse Texte vor dem Vergessen zu bewahren, sondern ein anderer: Nur wenige hundert Kilometer östlich vom Land der Sumerer liegt im südlichen Iran ein Ruinenhügel, der im 19. Jahr­hundert als Rest des biblischen Susa erkannt wurde, der Hauptstadt der Elamiter, Schauplatz des Buches Esther. Dort haben französische Archäologen Archi­ve mit großen Mengen von Tontafeln aus der Zeit um 3000 entdeckt, die zum Verwalten von Warenlieferungen dienten und uns heute Einblick in die Entwicklung einer Schrift über mehrere Jahrhunderte hinweg ermöglichen.

Die einfachsten, ältesten dieser Dokumente sind Listen mit Schriftzeichen, die mehr oder weniger deutlich Gebrauchsgegenstände abbilden: Pfeil- spitzen, Matten, Stoffballen, Beilklingen, Sägen usw. werden inventarisiert, bei Leserichtung von rechts nach links jeweils gefolgt von Zahlen: längli­chen Griffeleindrücken für die Einer, kleinen Krei­sen für die Zehner. Aber nicht nur Waren hat man so verwaltet, sondern auch Menschen. Auf Täfelchen in einem standardi­sierten Format stehen Buchungen über feste Ratio­nen von Getreide, die zur Verpflegung an Arbeits­kräfte ausgegeben wurden. Hier zeigt sich, dass die Menschen mit demselben Zehnersystem wie oben gezählt wurden, die Lebensmittel jedoch in einem Sechsersystem. So bedeutet auf der folgenden Tafel das erste noch lesbare Zeichen 1000, die stehenden Sanduhren je 100, die Kreise je 10. Nach dem Zei­chen für Getreide, das einer Bischofsmütze ähnelt, bedeutet jedoch der kleine Kreis 6, und hinzu kom­men große Tassen für je 180, große Kreise für je 60 und drei Zeichen für Bruchteile, die zusammen Y2 ergeben. (Dieses Vorgehen mag uns befremden, aber auch wir kennen noch nicht-dezimale Maßein­heiten, wie zum Beispiel PS für Leistung oder Zoll für Wasserrohre.) Im ersten Posten erhalten 1456 Personen 728 Getreidemaße, im zweiten ist die Relation 973:486 Y2, im dritten 102:51, also stets ein halbes Maß pro Person.

Nun enthalten vor allem die späteren Texte auch Folgen von Zeichen, die weder Waren noch Zahlen bedeuten, sondern Auskunft geben über Orte der Transaktionen oder Personen, die für sie verant­wortlich waren, wie zum Beispiel das „Dreieck mit Fransen“ in der Mitte der dritten Reihe, das auch auf Siegelbildern erscheint (siehe unten). Hier haben wir das Problem, dass es erstens eine große Band­breite an abweichenden Zeichenformen gibt, sozu­sagen jedes Büro die Schrift nach eigenem Gusto verschnörkelt hat, zweitens mit unserer Kenntnis der elamischen Sprache mangels Texten in lesbarer Keilschrift nicht weit her ist. Bleibt der Reiz eines 5000 Jahre alten Rätsels, das auf seine Lösung harrt!

    Pieter Minden

 

Quellennachweis: Gemeindebrief 10/15 

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