Der Turm am Teich von Siloah (Lk 13,4–5)

Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen?

Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen (Lk 13,45). Der Turm am Teich von Siloah ist nur eine klei­ne Notiz in der Bibel. Man weiß nicht, wie dieser Turm ausgesehen hat, man weiß nur, dass er ein­gestürzt ist und dass bei diesem Einsturz 18 Men­schen ums Leben gekommen sind. Man erfährt auch nichts über den Grund des Einsturzes, ebenso wenig über die Opfer des Unglücks. Und dennoch führt einen diese kleine Notiz zu einem der schwierigsten theologischen Themen überhaupt. Wenn sich ein Unglück wie ein Unfall oder eine Naturka­tastrophe ereignet, wenn ein Mensch schwer krank wird, stellt sich unwillkürlich die Frage: „War­um?“ Warum gibt es Leid in der Welt, wie kann Gott Leid zulassen? Wenn Gott allmächtig und gü­tig ist, müsste er dann nicht alles Leid abwenden? Wie konnte Gott es zulassen, dass der Turm von Siloah einstürzte und 18 unschuldige Menschen unter sich begrub, die zufällig gerade am falschen Ort waren? Viele Menschen, die nicht an Gottes Allmacht und Güte zweifeln oder verzweifeln wol­len, haben für sich den Schluss gezogen: Diesen Menschen geht es wahrscheinlich zu Recht so. Irgendetwas müssen sie falsch gemacht haben, dass dieses Unglück wie eine Strafe auf sie gekommen ist. Irgendwo muss doch ein Vergehen vorliegen. „Das geschieht ihm oder ihr ganz recht.“ Dass das sehr menschlich und sehr unbarmherzig gedacht ist, darauf gibt Jesus mit dem Unglück vom Turm am Teich von Siloah seine Antwort: „Nein, es geschieht ihnen nicht ganz recht. Sie sind nicht besser oder schlechter als ihr, und vor allem seid ihr nicht besser oder schlechter als sie.“ Vor Gott sind alle gleich schuldig, und es gibt keinen geistlichen Vor­teil, den man für sich reklamieren könnte und der einen im eigenen Urteil über andere stellt. Das wäre allenfalls geistliche Überheblichkeit. Es geht im Ge­gensatz dazu vielmehr darum, sich nicht die eigene Frömmigkeit auf die Fahnen zu schreiben, sondern die eigene Schuld zu erkennen und zu bekennen und vor Gott Buße zu tun. „Buße heißt umkehren in die offenen Arme Gottes.“ Das gilt für alle glei­chermaßen. Trotzdem bleibt diese Frage unbeantwortet: Warum diese 18 Menschen? Warum niemand anders? Warum diese Krankheit, warum dieses Unglück? Es gibt Fragen, auf die man keine Ant­wort erhält, auf die man allen­falls falsche und vorschnelle Ant­worten ausschließen kann, wie Jesus es mit seinem Beispiel vom Turm am Teich von Siloah tut: Es ist keine Strafe Gottes. Auch an anderer Stelle (Joh 9) durchbricht Jesus dieses Denken von Krank­heit und Schuld. Auch hier spielt der Teich Siloah eine Rolle. Dort heilt Jesus einen Blindgebore­nen und sagt ausdrücklich, dass weder jener noch seine Vorfahren eine Schuld auf sich geladen hät­ten, und das Blindsein eben keine daraus resultierende Strafe sei. Warum dann aber das Leid? Martin Luther, der unter Anfechtungen und Schuld gelitten hat, hat von der dunklen Seite Gottes gesprochen. Und wenn man Gott nicht versteht und nicht erkennt, wenn Gott stumm bleibt, dann solle man doch „von Gott zu Gott fliehen“, weg von der unbegreiflichen Seite Gottes hin zu Gott, wie er sich offenbart hat in Jesus Christus.

Als Teich von Siloah wurde übrigens eine künstliche Anlage am Ende des sogenannten Hiskiatunnels angesehen, der das Wasser der Gihonquelle, der einzigen Quelle Jerusalems, in den um­mauerten Teil der Stadt führte. Allerdings stammt das bisher als Siloahteich gezeigte Wasserreser­voir nicht aus der Zeit Jesu, sondern aus späterer, byzantinischer Zeit. Südlich davon haben Archäo­logen 2004 nun den wohl echten Siloahteich aus der Zeit Jesu gefunden, freilich ohne Turm. Die Fundamente eines runden Bauwerks jedoch sind in der Nähe sichtbar.

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